Wenn sich die Menschen erst von dem Irrtume der Vorzüge geschlechtlicher Enthaltsamkeit werden losgerungen haben, wird auch viel Unglück weniger sein. Erzwungene Enthaltsamkeit ist ein Übergriff, der sich bitter rächen kann. Die Gesetze in der ganzen Schöpfung zeigen doch deutlich genug den Weg, wohin man auch blickt. Unterdrückung ist widernatürlich. Alles Widernatürliche aber ist ein Aufbäumen gegen die natürlichen, also die göttlichen Gesetze, das wie in allen Dingen auch hierin keine guten Folgen bringen kann. Es wird nicht gerade in diesem einen Punkte eine Ausnahme gemacht. Nur darf sich der Mensch nicht von der geschlechtlichen Regung beherrschen lassen, darf sich nicht zum Sklaven seiner Triebe machen, sonst zieht er diese zur Leidenschaft groß, wodurch das Natürliche, Gesunde zum krankhaften Laster wird.
Der Mensch soll darüber stehen, das heißt: nicht etwa Enthaltsamkeit erzwingen, sondern mit innerer, reiner Moral eine Überwachung ausüben, damit ihm und anderen dadurch nicht Übel widerfahre.
Wenn mancher Mensch wähnt, durch Enthaltsamkeit geistig höher zu kommen, so kann es ihm leicht geschehen, daß er damit gerade das Gegenteil erreicht. Je nach seiner Veranlagung wird er mehr oder weniger dauernd im Kampfe mit den natürlichen Trieben stehen. Dieser Kampf nimmt einen großen Teil seiner geistigen Kräfte in Anspruch, hält sie also im Bann, so daß sie anderweit sich nicht betätigen können. Somit ist eine freie Entfaltung der geistigen Kräfte gehindert. Ein solcher Mensch leidet zu Zeiten an einer drückenden Gemütsschwere, die ihn an einem inneren, frohen Aufschwunge hindert.
Der Körper ist ein vom Schöpfer anvertrautes Gut, das der Mensch zu pflegen verpflichtet ist. Ebenso wie er sich dem Verlangen des Körpers nach Essen, Trinken, Ruhe und Schlaf, Blasen- und Darmentleerung nicht ungestraft enthalten kann, wie Mangel an frischer Luft und zu geringe Bewegung sich bald unangenehm fühlbar macht, so wird er auch nicht an dem gesunden Verlangen eines reifen Körpers zu geschlechtlicher Betätigung herumkünsteln können, ohne sich irgendeinen Schaden damit zuzufügen.
Erfüllung des natürlichen Verlangens des Körpers kann das Innere des Menschen, also die Entwicklung des Geistigen, nur fördern, niemals hemmen, sonst würde es der Schöpfer nicht hineingelegt haben. Aber wie überall, so schadet auch hierin jede Übertreibung. Es muß scharf darauf geachtet werden, daß das Verlangen nicht etwa nur die Folge einer durch Lesen oder andere Ursache künstlich angeregten Phantasie, eines geschwächten Körpers oder überreizter Nerven ist. Es muß sich wirklich nur um die Forderung eines gesunden Körpers handeln, die durchaus nicht sehr oft an den Menschen herantritt.
Das wird nur geschehen, wenn vorher zwischen beiden Geschlechtern bereits eine vollkommene geistige Harmonie eingesetzt hat, die zum Schluß manchmal auch einer körperlichen Vereinigung zustrebt.
Alle anderen Ursachen sind für beide Teile entehrend und unrein, unsittlich, auch in der Ehe. Dort, wo die geistige Harmonie nicht vorhanden ist, wird die Fortsetzung einer Ehe zur unbedingten Unsittlichkeit.
Wenn die gesellschaftliche Ordnung hierin noch keinen rechten Weg fand, so vermag dieser Mangel nichts an den Naturgesetzen zu ändern, die sich nach menschlichen Anordnungen und falsch erzogenen Begriffen niemals richten werden. Den Menschen dagegen wird nichts weiter übrig bleiben, als ihre staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen zuletzt den Naturgesetzen, also den göttlichen Gesetzen, anzupassen, wenn sie wirklich inneren Frieden haben und gesunden wollen.
Die geschlechtliche Enthaltsamkeit hat auch mit Keuschheit nichts zu tun. Enthaltsamkeit könnte höchstens in den Begriff „Züchtigkeit“ eingereiht werden, von Zucht, Erziehung oder Selbstzucht abgeleitet.
Unter wahrer Keuschheit ist die Reinheit der Gedanken zu verstehen, aber in allen Dingen, bis hinab zu den beruflichen Gedanken. Keuschheit ist eine rein geistige Eigenschaft, keine körperliche. Auch in der Erfüllung des Geschlechtstriebes kann die Keuschheit voll bewahrt werden durch gegenseitige Reinheit der Gedanken.
Außerdem aber hat die körperliche Vereinigung nicht nur den Zeugungszweck, sondern es soll dabei der nicht minder wertvolle und notwendige Vorgang einer innigen Verschmelzung und eines Austausches gegenseitiger Strömungen zu höherer Kraftentfaltung erfolgen.